by Heiko Stoff
Heiko Stoff ist Medizin- und Wissenschaftshistoriker an der Medizinischen Hochschule Hannover.
Willensfreiheit ist das Grundkonzept des liberalen Kapitalismus. Realisiert wurde es aber erst in den 1980er Jahren, als der Staat Verantwortung abgab und Individuen dazu gebracht wurden, freiwillig Selbstverantwortung zu übernehmen. Das ethische Prinzip der selbstverantwortlichen Freiwilligkeit drang in alle Lebensbereiche vor. Interessanterweise wurde dies gerade an einer Gruppe exemplifiziert, deren Autonomie qua Gesetzesbestimmungen suspendierbar erschien – den Strafgefangenen.
Im deutschen Grundgesetz wird wiederholt die Formel verwendet, dass etwas nicht „gegen den Willen“ einer Person geschehen dürfe. Der freie Wille wird also ex negativo festgestellt. Das Recht, Nein zu sagen, erscheint bedeutsamer als die Frage, was denn dieser Wille sei. Ebenso vage heißt es weiter, dass jede Person das Recht auf die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit habe. Zu Beginn der 1960er wurde festgehalten, dass dies nicht für Strafgefangene gelte, denn diese seien einem „Sonderrechtsverhältnis“ unterworfen. Als sich Weihnachten 1967 ein Häftling der Justizvollzugsanstalt Celle schriftlich über die miserablen Haftbedingungen beschwerte und der Brief von der Anstaltsleitung konfisziert wurde, klagte der Gefangene gegen diese Einschränkung seiner Persönlichkeitsentfaltung. Der Fall gelangte bis vor das Bundesverfassungsgericht, das dann am 14. März 1972 entschied, dass auch denjenigen, die einem Sonderrechtsverhältnis unterworfen seien, Grundrechte zuständen und dass zu deren Einschränkung eine Gesetzesgrundlage benötigt werde. Ein entsprechendes Strafvollzugsgesetz trat am 1. Januar 1977 in Kraft.
Der freie Wille ist also unter Haftbedingungen bereits eingeschränkt (es kommt selten vor, dass Gefangene freiwillig in Haft bleiben). Protestmöglichkeiten gegen die Einsperrung sind beschränkt. In den 1970er und 80er Jahren versuchten die Gefangenen aus der Roten Armee Fraktion (RAF) mit Hungerstreiks für sich Rechte zu erkämpfen, welche die Verbesserung der Haftbedingungen mit der staatlichen Anerkennung eines Kriegszustandes verband. Bei diesen Hungerstreiks wurde auf doppelte Weise das Problem des freien Willens verhandelt. Gefangene, die ihre Persönlichkeit nur bedingt entfalten konnten, verweigerten die Nahrungsaufnahme und wurden wiederum gegen ihren Willen zwangsernährt. Es ließe sich auch von einer „fürsorglichen Gewalt“ sprechen, mit welcher der Staat diejenigen, die sich in seiner Obhut befanden, am Leben zu erhalten versuchte. Dies widersprach jedoch jenem Gebot, nach dem für jeden ärztlichen Eingriff, so es sich nicht um einen Notfall handelt, eine Einwilligung der betroffenen Person vorliegen muss. Das Hauptdilemma bestand grundsätzlich zwischen der freien Willensentscheidung der Hungerstreikenden und der ärztlichen Pflicht zur Lebensrettung. Tatsächlich war im Strafvollzugsgesetz die Zwangsernährung einem ärztlichen Eingriff gleichgestellt worden. Der mühsam ausgehandelte § 101 besagte, dass Vollzugsärzte dazu verpflichtet wären auch gegen den Willen der Hungerstreikenden medizinisch einzugreifen, wenn sich diese in akuter Lebensgefahr befänden. Die oft mangelhaft durchgeführte brutale Zwangsernährung konnte nicht verhindern, dass 1974 Holger Meins und 1981 Sigurd Debus ums Leben kamen. Deshalb wurden in diesem Zeitraum auch juristische und ärztliche Positionen stark, die das Primat der Willensfreiheit der hungerstreikenden Gefangenen, aber auch die der Staatsräson vorrangige Autonomie der Ärzteschaft betonten.
Von besonderer Bedeutung war die Frage, ob Gefangene wirklich freien Willens an kollektiven Hungerstreiks teilnahmen oder ob Gruppenzwang bestand. Karl-Heinz Dellwo, der wegen der Geiselnahme in der bundesdeutschen Botschaft in Stockholm, bei der vier Menschen uns Leben kamen, seit 1975 im Gefängnis saß, hatte eine Art Ethik der Militanz entworfen, die auch für die Haftsituation Gültigkeit hatte. Es gehe darum, „sich freiwillig wie ein illegaler zu verhalten, sonst wirst du, was sie aus dir machen wollen: ein kretin“. Dellwo ordnete sein Handeln einem Rigorismus unter, bei dem das eigene Leben nicht der absolute Wert ist. Entsprechend stellten Juristen bezüglich des Hungerstreiks von 1981 fest, dass zwar eine zentrale Steuerung des Hungerstreiks unverkennbar, die Beteiligung der Einzelnen jedoch freiwillig gewesen sei. Die Hungerstreikenden vertraten das militante Prinzip der „non-compliance“ und verweigerten jene „compliance“, der wiederum bei der ärztlichen Behandlung so große Bedeutung zukommt. Das in den 1980er Jahren zunehmend diskutierte Konzept des „verständigen Patienten“, der, durch medizinische Experten aufgeklärt, an seiner Behandlung mitwirkt, verwies ausdrücklich auf die im Grundgesetz festgelegte freie Entfaltung der Persönlichkeit. Das damit verbundene Primat der Autonomie wurde zum zentralen Dogma der sich zu diesem Zeitpunkt institutionalisierenden Bio- und Medizinethik und fand explizit auch Anwendung auf die Situation von Hungerstreikenden.
Die prekäre Situation der ärztlichen Behandlung besteht in der freiwilligen Unterwerfung unter einen fremden Willen. Die Beziehung zwischen Arzt und Patient vollzieht sich im Spannungsfeld zwischen Paternalismus und informierter Einwilligung, zwischen Politik der Fürsorge und Ethik der Autonomie. Auch die medizinische Anthropologie betonte eine Asymmetrie zwischen ärztlicher Kompetenz und der Not des kranken Menschen, die sich schließlich in einem „Gleichgewicht der Partnerschaft“ aufheben müsse. Der Kranke müsse Selbstverantwortung übernehmen und der Arzt Verantwortung abgeben. In der konkreten Situation der Zwangsernährung setzte sich also die Staatsräson ebenso über die Persönlichkeitsrechte der Gefangenen wie gegenüber der ärztlichen Standesethik hinweg. Dies änderte sich zu Beginn der 1980er Jahre. Maßgebend war die Situation der hungerstreikenden Gefangenen der Irish Republican Army (IRA) in Großbritannien. Vor allem unter der konservativen Regierung von Margaret Thatcher wurde das ethische Prinzip der Patientenautonomie mit der politischen Entscheidung verbunden, gegenüber der IRA keinerlei Zugeständnisse zu machen. Der daraus abgeleitete Verzicht auf Zwangsernährungen führte 1981 zum Tod von zehn Hungerstreikenden. In der Bundesrepublik wurde hingegen nach langer Debatte eine intensivmedizinische Behandlung dann verpflichtend, wenn die Hungerstreikenden ihren Willen nicht mehr äußern konnten. Dies wurde 1985 durch eine Novelle des Strafvollzuggesetzes rechtlich fixiert, bei der das Kriterium „Lebensgefahr“ gestrichen wurde und nur noch der freie Wille blieb. Eine medizinische Intervention war erst dann geboten, wenn ein freier Wille nicht mehr artikuliert werden konnte. Selbstverantwortung sollte nicht Sterbenlassen bedeuten.
Während des neunten kollektiven Hungerstreiks der RAF im Winter 1984/85 wurde dieses neue Prinzip quasi experimentell erprobt, als der hungerstreikende Knut Folkerts im bewusstlosen Zustand an die martialisch gesicherte Medizinische Hochschule Hannover gebracht wurde: Gemäß der sogenannten Komamethode wurde der Hungerstreikende erst dann intensivmedizinisch behandelt, als er seinen freien Willen nicht mehr äußern konnte. Eine Zwangsernährung fand so nicht mehr statt, dennoch sollte sein Leben gerettet werden. Eine entscheidende Frage lautete dabei, ob Folkerts, nachdem er sein Bewusstsein wieder erlangt hatte, freiwillig in ärztlicher Behandlung blieb. Aber auch die mit der Behandlung betrauten Ärzte mussten beweisen, dass sie freiwillig handelten, nicht dem Willen des Justizministeriums unterworfen waren und dass sie zudem den freien Willen der Hungerstreikenden anerkannten. Zugleich mussten sie Folkerts aber auch dazu bringen, die Rolle eines verständigen Patienten anzunehmen. Die Komamethode konnte nur dann funktionieren, wenn der zum Patienten gewordene Hungerstreikende nach dem Erwachen freiwillig der Weiterbehandlung zustimmt und die militante Praxis der „non-compliance“ sozusagen ruhen lässt. Denn sonst hätte die medizinische Behandlung beendet werden müssen. Während der zehn Tage, die Folkerts auf der Intensivstation verbrachte, bewies sich das befriedende Potenzial dieser Machtkonstellation: Folkerts, der weiterleben wollte, wirkte an seiner Behandlung mit und der Staat gab seine Verantwortung an die Ärzte und ihn selber ab. Was als intensivmedizinische Lebensrettung und Selbstverantwortung des verständigen Patienten erschien, musste von den militanten Gefangenen aber ebenso als Niederlage aufgefasst werden. Das Kampfmittel des Hungerstreiks war obsolet geworden.
Das neue liberalkonsvervative Regime, das Selbstbestimmung an Selbstverantwortung band, erwies sich als stärker, als es die hungerstreikenden Gefangenen Mitte der 1980er Jahre noch sein konnten. In diesem Sinne ist die Geschichte der Komamethode auch ein bedeutsames Ereignis der Reformierung des verantwortlich-paternalistischen Fürsorgestaates, für den die Sozialdemokratie der 1970er Jahre stand, durch das liberalkonservative Dogma der Individualisierung von Verantwortung. Der medizinethische Grundsatz der Patientenautonomie, der exemplarisch anhand der Debatte über die Zwangsernährung von Hungerstreikenden ausformuliert wurde, gehörte zu all jenen Veränderungen der Privatisierung von Rechten und Pflichten, die seit den 1980er Jahren mit der Reorganisation staatlicher Interventionen einhergingen. Gegenüber einem Staat, der die Verantwortung für das Leben der hungerstreikenden Gefangenen abgegeben hatte, waren auch die freiwillig Illegalen machtlos.
Zitiervorschlag: Stoff, Heiko: “Staatsverantwortung und der freie Wille von Hungerstreikenden”, Freiwilligkeit: Geschichte – Gesellschaft – Theorie, Mai 2021, https://www.voluntariness.org/de/staatsverantwortung-und-der-freie-wille-von-hungerstreikenden/