Das Lockesche Subjekt

Foto (bearbeitet) via Wikimedia Commons,  © WTomley, CC BY-SA 4.0
portrait juergen martschukat

Von Jürgen Martschukat

Jürgen Martschukat ist Historiker an der Universität Erfurt.

Das Lockesche Subjekt: Freiwilligkeit als Essenz des Menschseins

Der Mensch als sich selbst gehörender, autonomer, freiwillig agierender Handlungsträger hat sich seit dem 17. Jahrhundert in das liberale politische Denken eingenistet. Im neoliberalen Zeitalter der letzten rund 50 Jahre hat er das politische und alltägliche Handeln mehr denn je zuvor geprägt und sich in den Entwurf idealen Subjektseins noch tiefer eingefräst. Doch das sogenannte Lockesche Subjekt ist im Zuge der zugespitzten planetarischen ökologischen Krise zur Zielscheibe der Kritik geworden. Es trage schlechthin nicht, werfen etwa Dipesh Chakrabarty und Bruno Latour ein. Phänomene wie die Erderwärmung können Menschen nicht als individuelle Handlungsträger, sondern nur kollektiv und über längere Zeiträume hinweg bewirken und auch nur so bekämpfen. Zudem ist es wohl kaum gewagt zu prophezeien, dass die Lage des Planeten sich nicht entspannen, sondern vielmehr weiter eskalieren wird, solange das freiwillig handelnde, autonome, sich selbst genügende Subjekt Fluchtpunkt des politischen Denkens und Handelns bleibt.

Die Frage ist, wie und mit welcher diskursiven Strategie es dem Lockeschen Subjekt gelungen ist, sich im Zentrum politischen Denkens und Handelns zu verankern, ja, sogar zu dessen Ausgangs- und Fluchtpunkt zugleich zu werden. Eine entsprechende Diskussion sollte bei John Locke selbst beginnen und von dort aus Perspektiven auf unsere Gegenwart eröffnen. In das Zentrum seiner politischen Theorie stellt Locke einen Menschen, der grundsätzlich zu freiwilligem Handeln befähigt ist. Dieser ist für ihn Voraussetzung und Ausgangspunkt von politischer Ordnung, die ihre Legitimität daraus herleiten kann, dass sie im Sinne des Menschen waltet. In den 1680er Jahren als Gegenentwurf zu autoritärer Königsherrschaft verfasst, stellte Locke in den Two Treatises of Government die Formierung einer „voluntary union of men“ an den Anfang einer freiheitlichen politischen Ordnung. „Politic societies [of free men] all began from a voluntary union,“ heißt es im Second Treatise.

Freiwilligkeit, Begehren und politische Ordnung

Folgen wir Locke, so steht freiwilliges Handeln im Kern einer solchen politischen Ordnung und es geht dieser zugleich voraus. Denn der Mensch sei qua seines Menschseins befähigt, freiwillig zu handeln. Freiwillig handeln zu können, mache den Menschen sogar als Menschen aus, schrieb Locke in seinem erkenntnistheoretischen Essay Concerning Human Understanding: „Voluntary motion, with sense and reason, [is] the nominal essence of the [human] species“. Locke publizierte seine Erkenntnistheorie etwa zur gleichen Zeit wie seine bereits erwähnte politische Hauptschrift über die Two Treatises of Government, in denen sich Freiwilligkeit politisch als Vertragstheorie konkretisiert. Freiwilligkeit ist das Scharnier, das Lockes Erkenntnistheorie und seine politische Philosophie miteinander verbindet. Denn die Fähigkeit freiwillig zu handeln ist die Voraussetzung dafür, ein politisches Wesen sein zu können, die Fesseln der autoritären Gewalt des Zwangs abzuschütteln, den Gesellschaftsvertrag zu schließen und so eine freie Gesellschaft zu etablieren, die in freiwilligen Handlungen gründet. Das Lockesche Subjekt ist ein freiwillig handelndes Subjekt, und es ist als der Ursprung und das Zentrum einer liberalen politischen Ordnung konzipiert.

Locke verortet Freiwilligkeit in der Interaktion von menschlichem Willen und Körper. Getriggert wird diese Interaktion, so schreibt er im Essay Concerning Human Understanding, von einem genuin, natürlich, universell gedachten menschlichen Begehren, Glück zu finden und Elend zu vermeiden. Für Locke ist das Begehren eine produktive Kraft von beinahe Deleuzianischer Wucht. Es ist einfach da, hält die Welt in Bewegung, ist der Motor des Seins und die Möglichkeitsbedingung freiwilligen Handelns. In der Theorie bleibt das konkrete Objekt des Begehrens unbestimmt. Wichtiger als das Objekt des Begehrens ist für Locke und das Lockesche Subjekt, dass Menschen mit der Fähigkeit ausgestattet seien, sich zu ihrem Begehren zu verhalten, indem sie bewusste Bewegungen des Körpers, wie das Heben eines Armes oder das Vollziehen eines Schrittes, beginnen oder unterlassen, fortführen oder beenden; und: “The [beginning or] forbearance, of that action, consequent to such order or command of the mind, is called voluntary.” Folgen wir Locke, so ist sogar das ganze Leben nicht mehr und nicht weniger als ein ewiges Sich-Verhalten zu dem eigenen Begehren. “It is that train of voluntary actions”, so Locke im Essay Concerning Human Understanding, „which makes up our lives“.

John Lockes politische Anthropologie war Teil des revolutionären Widerstands gegen die englische Monarchie und insbesondere gegen James II. Sie setzte Freiwilligkeit an die Stelle von Zwang sowie individuelle Selbstbestimmung und Eigentum an die Stelle autoritärer Herrschaft, die bis dahin eng an den Großgrundbesitz weniger gebunden war. Aus dem feudalherrschaftlichen Kontext heraus erfuhr das theoretisch unbestimmte Begehren bei Locke doch eine politische Konkretisierung in Form von Landeigentum. Eine neue politische Ordnung sollte der Befriedigung menschlichen Begehrens dienen, aus der menschlicher Wesenhaftigkeit heraus begründet werden und damit der menschlichen Fähigkeit Raum geben, darüber zu entscheiden, wie man sich zu den eigenen Wünschen und Begehren verhielt. Jede andere politische Ordnung wäre im Widerspruch zur menschlichen Natur.

Führung durch Anleitung

Allerdings ist das Lockesche Subjekt von Anbeginn an ein janusköpfiges gewesen. Dessen freiheitliches Recht auf die Befriedigung seiner individuellen Bedürfnisse zu verkünden, war gegen die autoritäre Herrschaft des englischen Königshauses gerichtet. Zugleich war dieses freiheitliche Recht weiß und männlich, und John Lockes politische Anthropologie stand nicht nur im Kontext des Widerstandes gegen Feudalherrschaft, sondern auch der siedlerkolonialen Exansion, des Landgrabbing und der Versklavung. Mithin ging das individuelle und politische Recht freiwillig und ohne äußeren Zwang zu agieren mit der Ausgrenzung, Unterdrückung, Beraubung und Ausbeutung anderer einher. Darüber hinaus brachte es eine systemische Vernachlässigung von Handlungseffekten mit sich, für die man einen größeren Maßstab anlegen muss. Anders formuliert: Die eine Farm eines englischen Siedlers in der Cheasapeake Bay stellte wohl ein eher geringeres Problem dar; doch die schwarmförmige siedlerkoloniale Eroberung des nordamerikanischen Kontinentes hatte genozidale Konsequenzen. Mit Blick auf die Gegenwart ließe sich ähnlich argumentieren: Der ökologische Fußabdruck des Einzelnen stellt wohl ein eher geringeres Problem dar; in der Masse wird er zu einer geophysischen Kraft.

John Locke hat sich um die Janusköpfigkeit des liberalen Subjektes nicht geschert. Dafür war er zu sehr in die expansionistischen und entmenschlichenden Politiken des 17. Jahrhunderts verstrickt. Locke hat in die Royal African Company investiert, die Sklaverei in der Verfassung der Kolonie Carolina verankert und diese in Virginia gegen eine möglichst breite siedlerkoloniale Expansion abgewogen. Allerdings hat John Locke in den 1690er Jahren auch darüber nachgedacht, inwieweit das freiwillig agierende Subjekt in seinem Handeln geführt werden soll und kann. Dabei räsonierte er über eine Art der Führung, die nicht auf eine einzelne Handlung ausgerichtet sein sollte, sondern vielmehr durch Anleitung und Erziehung Richtlinien des Entscheidens in das Subjekt und sein Handeln einschreibt; und zwar so tief, dass sie aus ihm selbst herauszukommen scheinen. Das freiwillige Entscheiden über das eigene Handeln findet dann innerhalb eines vorgeformten Feldes statt, das die Freiwilligkeit rahmt, wie auch die Philosophin Hina Nazar betont. Das Subjekt entscheidet nach wie vor frei, aber doch zugleich geführt.

Ein Lockesches Subjekt zu sein, kann also durchaus mehr bedeuten, als jedem Begehren unmittelbar nachgehen können zu wollen und sogar ein Recht darauf zu reklamieren. Es bedeutet vielmehr auch, innehalten zu können, zwischen verschiedenen Begehren abzuwägen, dabei auch die Begehren anderer und „the greater good“ anzuerkennen und einzubeziehen, sich damit zu identifizieren und, um mit den Philosophen Harry G. Frankfurt und Christian Bock zu sprechen, Wünschen zweiter oder gar dritter Ordnung Raum zu gewähren. Auch bedeutet ein damit verbundener Verzicht auf sofortige Befriedigung für das Lockesche Subjekt keine Verletzung von Freiheitsrechten, wie sie gegenwärtig regelmäßig beklagt wird. Im Gegenteil, betont der politische Philosoph Dirk Schuck: Für John Locke begründet erst die Fähigkeit, verzichten zu können, wahre Handlungsfreiheit.


Zitiervorschlag: Martschukat, Jürgen: „Das Lockesche Subjekt. Freiwilligkeit als Essenz des Menschseins“, Freiwilligkeit: Geschichte – Gesellschaft – Theorie, August 2024, https://www.voluntariness.org/de/the-lockean-subject/.

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