by Elena M. E. Kiesel and Markus Dolinsky
Elena Marie Elisabeth Kiesel ist Historiker an der Universität Erfurt
Markus Dolinsky ist Historiker an der Universität Erfurt.
Religiöser Determinismus und freier Wille in der Fernsehserie „Vikings“
Heiden gegen Christen, Brüder gegen Brüder, freier Wille gegen Schicksal: In der kanadisch-irischen Fernsehserie „Vikings“ tauchen die Zuschauenden in eine konfliktgeladene Welt religiöser Sinnsuche und strikter gesellschaftlicher Normerwartungen ein. Dabei geht es um mehr als nur eine oberflächliche Romantisierung und popkulturelle Inszenierung des Wikingertums. Vielmehr berührt die Serie menschliche Sensibilitäten, indem sie zeigt, dass Freiwilligkeit nicht immer frei macht und selbst restriktive Gesellschaftsformen Entscheidungen zulassen, die sich im Sinne des amerikanischen Philosophen John Christman als „free and authentic“ beschreiben ließen – als für das Individuum von persönlichem Wert, anerkannt durch das soziale Umfeld und unabhängig von externen Repressionen. Diese Auffassung ist im Kosmos der Serie vor allem dann besonders reizvoll, wenn eine authentische Entscheidung den bewussten Wechsel von einem restriktiven System in das andere bedeutet.
Vikings, im März 2013 erstmals im kanadischen „History Television“ ausgestrahlt, spielt im Norwegen des späten achten und frühen neunten Jahrhunderts, erzählt von Expansionsfahrten und internen Konflikten der Wikinger und funktioniert dabei wie so ziemlich jede andere filmische „Geschichtsdarstellung“: Drehbuchautor Michael Hirst erzählt die in sich weitgehend abgeschlossene Geschichte des legendären Wikingerkönigs Ragnar Lothbrok und seiner Familie. Beinahe alle Protagonist*innen haben ihre Vorbilder in den altnordischen Sagas oder der mittelalterlichen lateinischen Überlieferung. Die Serie folgt den Regeln des vereinfachten Storytellings, emotionalisiert, personalisiert und dramatisiert historische Prozesse, und erhebt gar nicht erst den Anspruch, die differenzierten Diskurse der Forschung aufzugreifen. Dass oftmals recht arbiträr mit Chronologie, Geografie und materieller Kultur umgegangen wird, wurde schon vielfach von Rezensent*innen angemahnt. Konventionellen Ansätzen der Filmanalyse folgend, verrät uns die Serie ohnehin mehr über unsere Gegenwart als über das Mittelalter.
Bruderkrieg
Vikings ist das Porträt eines Volkes von Krieger*innen, die ihr Überleben in der Schlacht bereitwillig in die Hände der Götter legen. Der Schlachtruf „Sieg oder Walhalla!“ suggeriert, dass die Kombattant*innen freiwillig bereit sind, bis zum Äußersten zu kämpfen, um der religiös geprägten Normerwartung gerecht zu werden und sich einen Platz an Odins (oder auch Freyjas) Tafel zu verdienen. Die nordische Religiosität funktioniert in „Vikings“ demnach erstens als Motivationsstrategie für existenzielle Hingabe. Zweitens wirkt sie herrschaftsstabilisierend und gesellschaftsordnend, da innerhalb des dargestellten Weltbildes kriegerische Konflikte als Teil des individuellen Lebenswegs nicht (oder nur bedingt) in Frage gestellt werden. Gleichzeitig kann jede Entscheidung auf die Führung der Götter zurückgeführt werden, die den Verlauf des Lebenspfades bis zum Tod bereits festgelegt haben. „Bei Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Seher!“, könnte die Devise einer individuellen Selbstvergewisserung heißen. Ebenso verhält es sich mit den christlichen Kriegern, die sich in der Erfüllung des vermeintlichen göttlichen Willens der Ausmerzung der Heiden ihrerseits existenziell verschreiben. Oberflächlich betrachtet, stellen die Akteur*innen dieser Auseinandersetzung die absolute Normerwartung allumfassender Hingabe für religiöse Belange nicht in Frage – sie geben sich einem authentischen Wikinger-Dasein hin, ohne ernsthaft eine alternative Lebensgestaltung zu erwägen.
Sofern Glaube als alleinige Motivationsstrategie nicht greift, sichern verwandtschaftliche Treueverpflichtungen die jeweilige Integrität der verfeindeten Lager. Dieses Phänomen bildet die Serie zuerst in dem Konflikt zwischen dem Hauptprotagonisten Ragnar Lothbrok und seinem chronisch eifersüchtigen Bruder Rollo ab: Über den Serienverlauf geht Letzterer mehrmals in Opposition zu Ersterem, um sich aus dessen Schatten zu lösen, kehrt aber immer wieder reumütig an dessen Seite zurück. Er findet keine nachhaltige Möglichkeit zur Selbstverwirklichung, sondern stößt mit der Norm der Brudertreue stets an die Grenzen seiner Entscheidungsmöglichkeiten.
Letztlich eröffnet sich jedoch eine Alternative: Von Ragnar als Anführer einer Besatzungseinheit bei Paris zurückgelassen, verrät Rollo seine Truppen an den westfränkischen König, geht mit diesem ein Bündnis gegen die Norweger ein und lässt sich taufen. Im Gegenzug erhält er die Tochter des Frankenkönigs zur Ehefrau und wird zum Herzog der Normandie ernannt. So bricht Rollo seiner persönlichen Belange und Ziele wegen mit der nordischen Religiosität – eine Strategie, die auch der realen Gegenwartsgesellschaft nicht fremd sein dürfte. Doch hat er durch seine Konversion möglicherweise mehr gewonnen, als nur eine hübsche Gemahlin und politischen Einfluss? Das Christentum und das fränkische Lehenswesen mögen zunächst kaum liberaler als die nordische Religion und Kriegergesellschaft anmuten. Doch der Systemwechsel bedeutet für Rollo einen Zugewinn von Freiheit, denn nun kann er seine Ressourcen nutzen, um ohne Ansehensverlust authentische, d. h. aus seiner Perspektive wert- und sinnvolle Entscheidungen zu treffen. Von John Christmans positivem Freiheitsbegriff ausgehend, ist Rollo einem Dasein als freies Subjekt bedeutend nähergekommen. Und er ist nicht der einzige Seriencharakter, dem im Geflecht von nordischem Schicksalsglauben und verwandtschaftlichen Normerwartungen mittels der christlichen Konversion eine Form von Freiheit ermöglicht wird. Dieselbe Problematik wird in einem späteren Handlungsstrang mit veränderter Akteurskonstellation expliziter aufgegriffen. Verändern wir also das Setting und spulen ein paar Jahre vor. (Staffel 5, Folge 07)
Strategiespiele
Ragnars geradezu fanatisch religiöser Sohn Ivar sitzt mit seinem Gefangenen, dem englischen Kriegerbischof Heahmund, beisammen und spielt ein Brettspiel. Im Verlauf des Spiels versucht Ivar, den Bischof als militärischen Verbündeten zu gewinnen. Der Gefangene macht ihn darauf aufmerksam, dass es ihm gleich sei, ob Ivar oder dessen (ebenfalls heidnischen) Feinde gewännen. Ivar entgegnet, er wisse, dass Heahmund gewinnen wolle. Doch weist dieser eine intrinsische Motivation – Siegeshunger – von sich, und erwidert, er sei sicher, Gottes Wunsch und Plan zu folgen, sollte er Ivars Bitte entsprechen. An dieser Stelle mischt sich Hvitserk, Ivars älterer Bruder, der bislang im Hintergrund sitzend nur zugehört hatte, in das Gespräch ein: „Then you believe like us, that you are fated, hm?“ Heahmund antwortet jedoch: „No, I still believe I have free will! I choose to fight for you.“ Schließlich erwidert Ivar: „If you are fated, it doesn’t matter if you choose or not. You simply have the illusion of being free to choose.“ Es ist Hvitserk, der auf diese Erklärung Ivars im Folgenden mit seinem vermeintlichen Schicksal hadert. Er zeigt sich unsicher, ob seine Lebensentscheidungen das Ergebnis göttlicher Fügung oder freier Willensentscheidung waren, anders als Ivar, der sein Schicksal nicht nur zu kennen glaubt und akzeptiert, sondern aktiv auf dessen Erfüllung hinarbeitet.
Nun sind „freier Wille“ und „Freiwilligkeit“ nicht dasselbe, wobei eine Vielzahl von Handlungsoptionen allein weder das eine noch das andere garantiert. Die nordische Gesellschaft folgt im Serienuniversum in mancherlei Hinsicht weniger verbindlichen normativen Setzungen als die christliche Sozialstruktur. Ein Mangel an Selbstbefähigung und -reflexion ist jedoch fest in die determinierende Religion eingeschrieben und verhindert immer wieder freiwilliges und authentisches Handeln. Im unmittelbaren Vergleich bietet das dargestellte Christentum mit seiner Bejahung des freien Willens ein größeres Authentizitätspotential, was es insbesondere für die Verlierer des nordischen Schicksalsglaubens zu einem bereitwillig ergriffenen Orientierungs- und Sinnstiftungsangebot macht.
Im Kontrast zu Heahmund, der selbst in Gefangenschaft mit sich und der Welt im Einklang wirkt, befindet sich Hvitserk in einer handfesten Krise. Zwar kann er sein kämpferisches Geschick im Rahmen der religiösen, gesellschaftlichen und nicht zuletzt verwandtschaftlichen Normerwartungen nutzbar machen, doch generiert er darüber nicht die erwartete Anerkennung im Schatten seines despotischen Bruders Ivar. Seine Suche nach Selbstverwirklichung treibt ihn schließlich an den Rand der Selbstzerstörung. In Hvitserk personalisiert sich also die Diskrepanz zwischen der Erfüllung von Normerwartungen, Selbsterkenntnis in Form der Bewusstwerdung über die eigenen Fähigkeiten und der Generierung von Anerkennung. Erschwert wird diese Krise durch den nordischen Glauben an universelle Determination. Demgegenüber postuliert der Bischof, sich freiwillig göttlicher Leitung zu verschreiben und setzt seine religiösen Ideale und Vorstellungen hingebungsvoll in die Tat um. Er glaubt nicht an einen vorgezeichneten Lebensweg, sondern vielmehr an einen göttlichen Fingerzeig, dem er aus freien Stücken Folge leistet. Diese religiöse Leitungsfunktion erscheint Hvitserk schließlich das persönliche Heilsversprechen zu sein, denn das Serienfinale endet in der Szene seiner Taufe und seinem Gefolgschaftsversprechen an den englischen König.
Ob die Darstellung der beiden Religionen der historischen Realität entspricht, soll hier überhaupt nicht diskutiert werden. In dem abgebildeten Religionskonflikt kristallisiert sich jedoch heraus, dass restriktive gesellschaftliche Systeme durchaus Räume eröffnen, in denen Menschen selbstbewusst und authentisch agieren können (siehe Ivar). Doch diejenigen, die sich in dem dichten Geflecht gesellschaftlicher Normerwartungen verheddern, entgehen einer existentiellen Sinnkrise oft nur durch den Bruch mit dem System. Adaptiert auf ein liberales Gesellschaftsverständnis der Gegenwart könnte die Conclusio der Serie lauten, dass eine ausgewogene Gemengelage an verbindlichen diskursiven Normen gepaart mit Angeboten zur Selbstbefähigung und -erkenntnis, authentische Subjekte hervorbringt, die wiederum ein Interesse daran haben, das Gesellschaftskonstrukt freiwillig mitzutragen.
Zitiervorschlag: Dolinsky, Markus / Kiesel, Elena M. E.: “Are we Fated? Religiöser Determinismus und freier Wille in der Fernsehserie Vikings”, Freiwilligkeit: Geschichte – Gesellschaft – Theorie, Juni 2021, https://www.voluntariness.org/de/vikings/.