Reflexion über das Bürgerforum zur DDR-Neuererbewegung
“Sie sind zu spät!“, sagte ein älterer Herr am anderen Ende einer der drei großen Tische, die im Ehrhardt-Saal des Museums “automobile welt eisenach” anlässlich unseres “Bürgerforums zur DDR-Neuererbewegung” am 30.09.2022 aufgebaut waren. Was er damit meinte war, dass viele ehemalige Mitarbeiter*innen der DDR-Betriebe, die einiges über die Neuererbewegung zu berichten gehabt hätten, hochbetagt oder bereits verstorben waren. In der Tat waren die meisten unserer 14 Gäste bereits im fortgeschrittenen Rentenalter, doch ließen sie es sich nicht nehmen, ihre Erinnerungen mit uns zu teilen. Damit leisteten sie einen wertvollen Beitrag zur Bearbeitung des Forschungsprojektes “Freiwilligkeit und Diktatur: Freiwilliges Mitmachen im Neuererwesen der Deutschen Demokratischen Republik”. In Kooperation mit der Oral History Forschungsstelle der Universität Erfurt konnten die persönlichen Erfahrungen ehemaliger “Neuerer” die bislang gesammelten Erkenntnisse aus den Quellenbeständen des Betriebsarchivs des volkseigenen Betriebes Automobilwerk Eisenach (VEB AWE), des Thüringischen Landesarchivs sowie des Bundesarchivs Berlin einordnen. Zugleich diente die Veranstaltung der Stärkung des Dialogs zwischen Zivilgesellschaft und Wissenschaft, indem unser Forschungsprojekt, unsere Herangehensweise, Fragen und Gedanken öffentlich vorgestellt und diskutiert wurden.
Was bedeutete es, ein Neuerer zu sein? Mit Oral History auf der Spur des Erlebten
Im Kern unseres Interesses lag die Erinnerungen unserer Gäste, ihre Deutungen und Erzählungen. Mit der Oral-History-Methode geht es immer um das Wechselspiel zwischen der vergangenen Zeit, die aus der Gegenwart berichtet und reflektiert wird. Erinnerungen zu teilen bedeutet dabei nicht, das Erlebte eins zu eins wiederzugeben, sondern vielmehr das Erlebte als eine Konstruktion durch spätere Begebenheiten, Erfahrungen, Reflexionen und wiederholtem Erzählen wahrzunehmen. Insofern ist auch wichtig, die Zeitspanne zwischen dem Erlebten und der Gegenwart, in welcher berichtet wird, in die Analyse einzubeziehen. Auch für eine Betrachtung von Freiwilligkeit sind diese beiden unterschiedlichen Zeitschienen relevant, besonders wenn wir uns mit Freiwilligkeit in ihrer ethischen Dimension und ihren moralischen Zuschreibungen beschäftigen.
Was bis zum Umbruch 1989/90 noch als auszeichnungswürdiges freiwilliges Engagement und Neuererleistung galt, konnte danach schnell als willfährige Unterstützung eines diktatorischen Regimes gedeutet werden. Interessanterweise thematisierten unsere Gäste diese vorangenommene Verkehrung nicht. Neuerervorschläge einzureichen oder sogenannte Neuerervereinbarungen zu bearbeiten, also im „Kollektiv gemeinsam Innovationsaufgaben zu realisieren“, bedeutet für unsere Gäste kein „Mitmachen für das Regime“. Während bei der Erhebung und Auswertung von Zeitzeug*inneninterviews zur DDR-Zeit in den 1990er Jahren noch zu berücksichtigen war, dass die Befragten aufgrund eines gewissen Rechtfertigungsdrucks zu einer Relativierung ihrer Kooperation mit staatlichen Organisationen neigten, entfällt dieser Aspekt heute. Dies liegt einerseits daran, dass sich die meisten ehemaligen DDR-Bürgerinnen nun an ihrem Lebensabend befinden und keine beruflichen Konsequenzen mehr zu befürchten haben. Andererseits hat sich auch der öffentliche Diskurs seit den 1990er Jahren dahingehend verändert, dass das damalige gesellschaftliches Engagement nicht mehr eindimensional als Loyalitätsbeweise oder dergleichen abgetan werden kann. Spätestens in der jüngeren historischen Forschung zur DDR gelingt es mit analytischen Linsen wie etwa der Kategorie des Eigen-Sinns eine Differenzierung der Interpretationsansätze vorzunehmen.
Zwischen Planerfüllung und Gruppendynamik
Um herauszufinden, welche Zeitabschnitte und Ereignisse besonders prägend für unsere Gäste waren, haben wir, Agnès Arp und Alexandra Petri (beide OHF) und ich, so wenig wie möglich in die Gesprächsthemen eingegriffen. Zu Beginn der Veranstaltung ließen wir unsere Gäste an den mit Schreibmaterial und Verköstigung ausgestatteten Tischen ihre Plätze und damit ihre Gesprächspartner*innen frei wählen. Dabei mag es wenig überraschen, dass sich diejenigen zusammensetzten, die sich bereits von früher kannten oder spontan einen Draht zueinander entwickelten: So gesellten sich die Konstrukteure und Ingenieure des VEB AWE zueinander, die ehemaligen Büroangestellten besetzten einen Tisch und an einem dritten kamen mehrheitlich Facharbeiterinnen aus dem Produktionsbereich miteinander ins Gespräch. An einem Tisch sprachen die Büroangestellten darüber, wie mit den vorgegebenen Kennziffern der Wirtschaftspläne umgegangen worden ist und wo geschoben und geschummelt wurde, um die Abrechnungen mit den staatlichen Vorgaben in Einklang zu bringen. Eine ehemalige Wirtschaftsprüferin berichtete, dass gerade bei der Abrechnung der Planvorgaben zur Neuererbewegung häufiger geschönt wurde, da oft nicht genügend Vorschläge eingereicht worden waren und die vorhandenen mehrfach abgerechnet wurden. Es wurden Witze über die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit im Sozialismus gemacht, schließlich hatte niemand aus der Runde persönliche Einschnitte durch das Regime erlebt – und niemand zählte zu den sogenannten “Wendeverlierern”.
Anders verhielt es sich in der Runde der Facharbeiter*innen, in der die Neuererbewegung nur als “notwendiges Übel” eines Regimes verstanden wurde, welches ihnen keine Möglichkeiten zur beruflichen oder persönlichen Weiterentwicklung geboten hatte. Es habe “keinen einzigen ehrlichen Tag” gegeben, sagte eine Person missmutig. Letztlich habe der Mangel sie geeint, stimmten alle am Tisch überein. Demgegenüber berichteten die Ingenieure von unterschiedlichen Vorschlägen und Neuerungen, die sie auf den Weg gebracht hatten, um die Automobilproduktion in Eisenach voranzubringen. Aufgrund von Materialmangel und fehlender Werkzeugtechnik blieben jedoch viele der fortschrittlichen Ideen ungenutzt und wurden gar via Ministerialbeschluss abgelehnt. Erst nach 1990, als das Werk in Eisenach von Opel übernommen worden war, fanden die Ideen der Ingenieure Gehör, denn auch der westdeutsche Konzern hatte ein betriebliches Vorschlagswesen etabliert. Stolz berichtete einer der ehemaligen Ingenieure, dass der Eisenacher Opel-Standort mithilfe der Vorschläge von ehemaligen DDR-Kadern zu Beginn der 1990er Jahre die besten Produktionszahlen Europas verzeichnen konnte. Die späte Anerkennung ihrer Expertise schien den Herren eine Art Genugtuung zu verschaffen, hatte das sozialistische Regime ihre Kreativität und Enthusiasmus aus verschiedenen Gründen beschnitten und sie damit auch in ihrem Selbstverständnis als Ingenieure tief gekränkt.
Nach einer wohlverdienten Pause fanden wir uns in einer großen Runde mit allen Teilnehmenden, die von Agnès Arp moderiert wurde, zusammen, um die verschiedenen Erinnerungen und Perspektiven gemeinsam zu diskutieren. Interessanterweise stellte sich dabei heraus, dass sich die durchaus sehr unterschiedlichen Erfahrungen und Erlebnisse keineswegs gegenseitig ausschlossen oder gar zu Konfliktpotenzial aufgrund von Meinungsverschiedenheiten führten. Vielmehr herrschte eine aufmerksame und wohlwollende Atmosphäre. Maßgeblich für die Erfahrungen mit der Neuererbewegung waren häufig das Beschäftigungsverhältnis und das berufliche Selbstverständnis sowie die sich in diesem Zusammenhang ergebenden Ressourcen und Möglichkeiten. Deutlich wurde dies auch an der Art und Weise des Erzählens: Die Ingenieure berichteten detailreich über neue Bauteile zur Senkung des Kraftstoffverbrauchs und der Abgas-Emissionen bei gleichbleibender Motorleistung. Demgegenüber erzählte ein Facharbeiter, er habe gerne im Kollektiv Neuerervereinbarungen bearbeitet, weil es Spaß gemacht habe, gemeinsam zu tüfteln und anschließend die Prämie zu “verfeiern”. “Reich geworden ist keiner”, erzählte der ältere Herr. Bevor wir die Runde gegen 19 Uhr schlossen, fragten wir die Gäste danach, wie sie die Neuererbewegung in einer einzigen Wendung beschreiben würden. Dabei fielen die Antworten vielfältig und komplementär: “Erfüllungsgehilfe”, “notwendiges Übel”, “Möglichkeit zum Geldverdienen”, “Erleichterung der Arbeit”, “vertane Chance”, “Mittel zum Zweck”, “Verbesserung”, “Versuch für Neues”, “Planerfüllung”, “Plan sozialistischer Rationalisierung” oder “generelle Notwendigkeit”. Darin hallt nur wenig von der DDR-Propaganda nach, welche die Neuererbewegung gern als “Kaderschmiede” für die sozialistische Führungsebene und Standbein der deutsch-sowjetischen Verbundenheit deklarierte.
Bei unserer Veranstaltung wurde deutlich, dass die Zeitzeug*innen ganz eigensinnige Motivationen für das Einreichen und Bearbeiten von Neuerervorschlägen und -aufgaben verfolgten, die wenn überhaupt nur sehr entfernt mit den propagierten Ansprüchen der Bewegung in Verbindung standen. Ihre Teilnahme innerhalb der Organisation nahmen sie vor allem als Möglichkeit für einen Zuverdienst in Form einer “Neuerervergütung” wahr, nutzten sie zur beruflichen Entfaltung und Kreativität oder auch als gemeinsame Freizeitbeschäftigung. Nunmehr 33 Jahre nach dem Mauerfall sprachen unsere Gäste offen über ihre freiwillige Mitwirkung innerhalb der politischen Massenorganisation, ohne sich gleichzeitig als überzeugte Sozialist*innen zu beschreiben. Die Realität und die Umstände von Freiwilligkeit waren komplex und es bleibt unserer Aufgabe, die vielfältige Stimmen zur DDR-Geschichte wahrzunehmen, zu analysieren und zu kontextualisieren. Dazu ist es unerlässlich, mit den Protagonist*innen ins Gespräch zu kommen, ihre Erinnerungsberichte kritisch zu analysieren und mit den archivalischen Quellen in Beziehung zu setzen. Wir müssen zuhören, bevor ihre Stimmen verstummen.
Zitiervorschlag: Kiesel, Elena M. E.: “Freiwilligkeit als ‘Notwendiges Übel’? Reflexion über das Bürgerforum zur DDR-Neuererbewegung”, Freiwilligkeit: Geschichte – Gesellschaft – Theorie, Dezember 2022, https://www.voluntariness.org/de/freiwilligkeit-als-notwendiges-uebel/.