Geben als Akt der Freiwilligkeit?

Indische Frauen beim Training für Erste Hilfe im Falle eines Luftangriffs (Air Raid Precautions, ARP), Bombay 1942
(Foto aus der Sammlung des British Imperial War Museum, Public Domain, via Wikimedia Commons)

Von Maria Framke

Maria Framke ist Historikerin an der Universität Erfurt.

Geben als Akt der Freiwilligkeit? Humanitäre Hilfe im spätkolonialen Indien

Im Kriegsjahr 1917 traf sich eine kleine Gruppe von Frauen regelmäßig in Birbhum, Bengalen, um Rotkreuzarbeit zu leisten. Auf Initiative von Saroj Nalini Dutt (1887–1925), einer bengalischen Sozialreformerin und frühen Aktivistin für ländliche Entwicklung, nähten die Mitglieder der Birbhum Mahilā Samiti (einer Frauengruppe aus Birbhum) Kleider und stellten Zahnbürsten für indische Soldaten her, die im Ersten Weltkrieg kämpften. Dutt, die nach dem Krieg von der Britischen Rotkreuzgesellschaft für ihre Aktivitäten geehrt wurde, schickte auch monatlich Süßigkeiten, Gewürze und Zeitungen an Soldaten, die in Mesopotamien dienten. Die Frauengruppe, die sich in ihrer Arbeit normalerweise auf Themen des sozialen Fortschritts und der Bildung von bengalischen Frauen konzentrierte, ist nur eine von vielen Initiativen indischer humanitärer Hilfe während der Weltkriege. Das Beispiel wirft die Frage auf, welche Motive es für freiwilliges humanitäres Engagement gab und wie Beziehungen zum Staat, in diesem Fall zum Kolonialstaat, freiwilliges Handeln verkomplizierten oder sogar verhinderten. Im Folgenden zeige ich am Beispiel des kolonialen Indien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf, warum Unterstützung bereitgestellt wurde und in welchen Kontexten Hilfsleistungen eingeschränkt, verboten bzw. erzwungen wurden. Während im humanitären wie wissenschaftlichen Diskurs auf Moral und Mitgefühl als Impulsgeber verwiesen werden, haben neuere Arbeiten gezeigt, dass die Bereitstellung humanitärer Hilfe weltweit ebenfalls eng mit politischen, wirtschaftlichen und/oder sozialen Motiven verbunden war und ist.

Motive für humanitäre Hilfe: Zwischen Loyalität, Emanzipation, Mitgefühl und Nationalismus

Diese Beobachtung lässt sich auch für indische humanitäre Hilfe in der späten Kolonialzeit nachweisen. Die Kronkolonie Britisch-Indien kämpfte auf Seiten Großbritanniens im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Die Kriegsbeiträge Indiens an Menschen, Materialien und Geld waren für Großbritannien von wesentlicher Bedeutung und führten im politischen Bereich verstärkt zu indischen Forderungen nach politischen Konzessionen. Während indische Soldaten in Europa, Afrika, dem Mittleren Osten und Südostasien kämpften und indisches Geld die Siege der Alliierten mitfinanzierte, wurden in Indien umfangreiche humanitäre Kampagnen initiiert, die darauf abzielten, militärischen und zivilen Opfern der beiden Weltkriege zu helfen. Inder und Inderinnen stellten in erheblichem Umfang und wiederholt Geld, benötigte Gegenstände (medizinische Güter, Transportfahrzeuge etc.), Zeit und ihre Arbeitskraft, z.B. durch Transport-, Pflege-, Informations- und Besucherdienste zur Verfügung. Im Ersten Weltkrieg waren die Hilfsempfänger vorwiegend verwundete und kranke Soldaten – sowohl indische als auch britische. Jedoch wurden auch in Not geratene Zivilisten sowie Kriegsgefangene von indischen humanitären Organisationen versorgt. Indische Hilfsleistungen für die beiden letztgenannten Gruppen nahmen vor dem Hintergrund des Asiatisch-Pazifischen Krieges und der Bengalischen Hungersnot im Zweiten Weltkrieg rapide zu.

Moralische Erwägungen und Mitgefühl spielten bei indischen Hilfsleistungen ebenso eine Rolle wie eine Reihe weiterer Motive. So war humanitäre Arbeit, zum Beispiel in Form von Ambulanzeinheiten indischer Freiwilliger während des Ersten Weltkriegs, mit einer Motivlage verbunden, die imperiale Loyalität und nationalistische Aspirationen zusammenbrachte. Hilfe über Landesgrenzen hinweg war für Mitglieder der freiwilligen Ambulanzeinheiten eine Möglichkeit, sich aktiv am Krieg zu beteiligen und neue Erfahrungen zu sammeln. Ersteres war besonders für solche Gruppen von Interesse, die zu diesem Zeitpunkt von einer aktiven Rekrutierung ausgeschlossen waren. Für die mögliche Mobilisierung einer künftig eigenständigen Nation wurden diese Erfahrungen als ausgesprochen wichtig erachtet, etwa die Disziplinierung oder Wehrhaftigkeit einer Gesellschaft.

Die humanitären Aktivitäten indischer Frauen während des Ersten Weltkrieges wurden ebenfalls durch Patriotismus, Loyalität, Staatsbürgerpflicht, Moral und Mitgefühl motiviert. Darüber hinaus war ihre freiwillige Kriegsarbeit aber auch mit Fragen der Emanzipation bzw. der Aus- und Neuverhandlung bestehender Geschlechternormen verbunden. Während die Aussicht, sich zukünftig politisch und sozial mehr einbringen zu können, Inderinnen dazu brachte, sich in den Kriegen zu engagieren, waren die konkreten humanitären Tätigkeiten oft mit existierenden Vorstellungen von weiblicher Verantwortung zur Fürsorge und Pflege verbunden.

Die Freiwilligkeit des Gebens im Kolonialstaat?

Die umfangreichen Geld- und Sachspenden wie auch der humanitäre Einsatz indischer Menschen beinhalteten zunächst implizit, aber dann immer offenkundiger Erwartungen nach mehr politischer Teilhabe, die seitens Großbritanniens kaum erfüllt wurden. Dementsprechend beteiligten sich Inder und Inderinnen zwar auch im Zweiten Weltkrieg an humanitären Initiativen, die eng mit dem kolonialen Staat verbunden waren, so zum Beispiel an der Arbeit des Indischen Roten Kreuzes und an der Indian Branch of the St. John Ambulance Association. Jedoch erhielten nun auch gerade viele nationalistische Hilfsorganisationen und -kampagnen, wie die Congress Medical Mission Burma oder die All Bengal Mahila Atma Raksha Samiti, Zulauf und finanzielle Unterstützung. Dieser Wandel in der Ausrichtung humanitärer Hilfe scheint ein Grund gewesen zu sein, die Freiwilligkeit beim Geben im Zuge von Spendensammlungen durch die britische Kolonialverwaltung sowie durch Firmeninhaber nun vermehrt zu ignorieren. Schon im Ersten Weltkrieg hatten indische Zeitungsbeiträge bezweifelt, dass alle Spenden freiwillig gemacht wurden. Dabei ging es weniger um die Motive indischer Menschen zu spenden bzw. um potenzielle reziproke Erwartungen, die damit verbunden waren, sondern konkret um erzwungene Beteiligungen. So befürchteten verschiedene Presseberichte zu Kriegsbeginn zunächst, dass bei Sammlungen in Fabriken die Besitzer ihre Arbeiter zu einer Abgabe zwingen könnten. Im späteren Kriegsverlauf berichteten einige indische Zeitungen kritisch davon, dass britische, aber auch indische Kolonialbeamte ihre Macht dazu einsetzen, Spendengelder von jedem verpflichtend einzusammeln. Dieses wiederkehrende Ausbrechen aus der Erzählung des “freiwilligen Gebens” ist zumindest in einigen Quellen festgehalten. Der offizielle Druck bei Spendensammlungen, zum Beispiel für verschiedene humanitäre Kriegsfonds, erhöhte sich merklich im Zweiten Weltkrieg und führte in Einzelfällen zu lokalem Widerstand der indischen Bevölkerung. Die Vorgehensweise der Kolonialregierung unterminierte dabei nicht nur indische Gefühle imperialer Loyalität, sondern stellte Indiens Position in den gemeinsamen alliierten Kriegsbemühungen in Frage.

Der Einfluss des Kolonialstaats auf freiwilliges Geben zeigte sich aber auch in anderer Hinsicht. Hilfsangebote nichtstaatlicher Akteure bedingten keineswegs nur im kolonialen Kontext oftmals einen Aushandlungsprozess mit den staatlichen Behörden. Gerade in militärischen Auseinandersetzungen konnte Hilfe nicht frei vom staatlichen Einverständnis und zumeist nicht ohne eine Zusammenarbeit mit staatlichen Akteuren organisiert werden. Dies traf auch für verschiedene humanitäre indische Initiativen, wie das Indian Field Ambulance Training Corps während des Ersten Weltkriegs oder die Congress Medical Mission nach Malaysia 1946 zu. Im kolonialen Kontext gestaltete sich die staatliche Eingriffsmacht jedoch umfassender und tiefgreifender als in der Metropole oder in anderen Teilen des britischen Empires und konnte zu kompletten Verboten der Unterstützung, vor allem aus politischen Gründen, führen.

Der Ausschluss freiwilliger Hilfe als kolonialstaatliches Instrument

Das zeigte sich zum Beispiel 1927, als der Ausbruch des chinesischen Bürgerkriegs zwischen den Nationalisten (Kuomintang) und den Kommunisten die britische Präsenz vor Ort herausforderte. Großbritannien reagierte mit der Entsendung der Shanghai Defence Force, zu der auch indische Soldaten gehörten. Der Indische Nationalkongress (Indian National Congress, INC), die Organisation, die den indischen Unabhängigkeitskampf anführte, forderte daraufhin nicht nur den Rückzug der indischen Truppen aus China, da man das britische Vorgehen als imperialistisch wahrnahm. Der INC beschloss außerdem eine indische Ambulanzeinheit nach China zu senden. Befürchtungen von britischer Seite, dass die angedachte Hilfe vor allem politischen Zwecken diene und als Demonstration gegen die Politik Großbritanniens in China benutzt würde, versuchten die Initiatoren durch wiederholte Hinweise auf die ausschließlich humanitäre Natur der Mission zu zerstreuen. Auch betonte man, dass die Einheit, streng nach den vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) festgelegten Grundsätzen arbeiten würde. Die Einwände zeigten unterdes nur wenig Erfolg. Obgleich die Vorbereitungen für die Einheit schon im vollen Gange waren, verweigerte die Kolonialregierung in Delhi in Absprache mit London die Ausstellung der notwendigen Pässe. Der staatliche Eingriff verhinderte somit die freiwillige, von indischen Nationalisten organisierte humanitäre Hilfe. Spätere nationalistische humanitäre Initiativen, wie die Entsendung eines Ärzteteams 1938 nach China, 1942 an die indisch-burmesische Grenze und 1946 nach Malaysia unterband die Kolonialregierung zwar nicht mehr in Gänze, behielt sich aber vor, ihr politisch missliebige Freiwillige auszuschließen.

In unserer heutigen Vorstellung ist humanitäre Hilfe oft mit Freiwilligkeit verbunden. Das Spenden von Geld- und Sachmitteln sowie der persönliche Einsatz von Zeit und Arbeitskraft während humanitärer Krisen basierte und basiert, so die Idee, auf einem freiwilligen Geben. Von dieser Prämisse ausgehend, erhob das IKRK 1965 Freiwilligkeit zu einem seiner sieben humanitären Prinzipien. 1986 wurden die sieben Grundsätze – neben Freiwilligkeit gehören außerdem Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität, Unabhängigkeit, Einheit und Universalität dazu – als verpflichtende Statuten für alle Mitglieder der Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung deklariert. Freiwilligkeit im Verständnis des IKRK bedeutet dabei die Motivation und Bereitstellung von Hilfe ohne Eigennutz und Gewinnstreben.

Dieser Beitrag ist nicht der vielleicht naheliegenden Frage gefolgt, inwieweit es dem IKRK und anderen nicht-staatlichen wie auch staatlichen humanitären Akteur:innen gelang und gelingt, an diesen Prinzipien festzuhalten. Vielmehr wurde hier die Frage aufgeworfen, wie es um die Freiwilligkeit humanitären Handelns unter den Bedingungen britischer Kolonialherrschaft in Indien stand. Dabei wurde gezeigt, dass humanitäre Hilfe auf komplexen Motiven beruhte, die über eine altruistische Freiwilligkeit als vorrangigen Handlungsgrund hinausgingen. Humanitäres Engagement wurde darüber hinaus entscheidend durch die Eingriffsmacht des Kolonialstaates geprägt. Den staatlichen Bedürfnissen entsprechend erlaubte, beschränkte oder verbot die britische Kolonialmacht freiwilliges Handeln von indischer Seite. Der Kolonialstaat forderte nachdrücklich nicht-staatliche Hilfsleistungen ein und erzwang diese in Einzelfällen.


Zitiervorschlag: Framke, Maria: “Geben als Akt der Freiwilligkeit? Humanitäre Hilfe im spätkolonialen Indien”, Freiwilligkeit: Geschichte – Gesellschaft – Theorie, Dezember 2024, https://www.voluntariness.org/de/geben-als-akt-der-freiwilligkeit/

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